Schnee von gestern, Schnee von heute

Wie jeder weiß, war früher alles besser. Das Geld war noch was wert, die Jugend konnte sich benehmen, die Butter hieß Gutebutter und man war auch mit wenig zufrieden. Vor allem aber war das Wetter besser. Überhaupt gab es mal richtiges Wetter, früher. Zwar erklärt einem niemand, wann das war, dieses ominöse Früher, aber das ist auch egal, denn Früher heißt das Land, in dem alle Hoffnungen wahr geworden sind, nur eben hat man es, als Früher das Jetzt war, nicht gemerkt. Das Wetter war jedenfalls wie von Rudi Carrell beschrieben: Sonnenschein von Juni bis September! Früher kam also die Landwirtschaft auch locker mal vier Monate ohne Regen aus. Und im Winter? Da fiel natürlich Schnee, dass es krachte. Zwar kann sich keine Omma und kein Oppa daran erinnern, mehr als einmal Schnee im Dezember gehabt zu haben, trotzdem faseln sie immer was davon, dass Weihnachten früher weißer gewesen sei.

Heute haben wir Ja praktisch keinen Schnee. Na gut, im Januar/Februar 2009 kriegten wir das weiße Zeug fast vier Wochen nicht von der Straße. Und der Stadtparkteich war so zugefroren, dass die Fische sich mit kleinen Eisfräsen nach oben arbeiten mussten, um Luft in ihr Heim zu lassen. Wir sind sogar Schlittschuh gelaufen. Hm, 2005/2006 war auch ziemlich hart. Aber anders. Der Schnee von gestern hatte es einfach in sich. Na gut, eigentlich war die Luft noch dreckig vom Ruß der Zechen, Stahl- und Hüttenwerke oder wo immer das Zeug damals rauskam, aber er muss damals besser gewesen sein, denn früher war doch alles besser!

Also Anfang 2008, da passierte dann aber mal wirklich was Schockierendes: Wir hatten Industrieschnee! Jawoll, nicht nur die Chinesen können das Wetter manipulieren, um es bei Olympia nett zu haben! Laut Wikipedia spricht man von Industrieschnee, wenn die weiße Pracht durch Emissionen, »vor allem von Wasserdampf und Kondensationskernen von Industrieanlagen hervorgerufen wird«. Voraussetzung für die Entstehung von Industrieschnee sind besondere Wetterbedingungen wie Nebel oder hochnebelartige Bewölkung, eine ausgeprägte Temperatur-Umkehrschicht (Inversion) in Bodennähe, geringe Luftbewegung und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Das Zeug ist feinkörniger als normaler Schnee, da er nur aus einer Höhe von 100 bis 200 Metern kommt, sodass die Eiskristalle nicht genügend Zeit hatten, sich auszubilden. (Klugscheißen -leichtgemacht mit Google.)

Außerdem ist Industrieschnee örtlich eng begrenzt. Für Theo, den alten Schrebergartennachbarn meiner Eltern, war das kein Wunder: »Kumma, hier läuft ne klare Linie durch die Anlage. Auf diese Seite, wo et schön weiß geworden is, da stehen ordentliche Gärten. Gut gepfleecht. Da wird sich gekümmert. Und da drüben«, wies er mit einer Handbewegung ins Ungefähre, »da hausen die Paselacken, die ihren Garten nur zum Saufen haben. Datt hat die Natur schon ganz schön eingerichtet.«

Ich erlaubte mir einzuwenden, dass Industrieschnee nur wenig mit Natur zu tun habe, weswegen ja der Experte von einer »anthropogenen, das heißt vom Menschen verursachten Beeinflussung des Wetters« spreche.

Theo schüttelte den Kopf und sagte: »Junge, lass die Finger von den Drogen! Und überhaupt«, fügte er hinzu und stützte sich auf seine Schneeschaufel, »kannten wir sowatt früher nich. Industrieschnee! Datt hatten wir doch gar nich nötich! Schnee war immer da. Und wir waren auch mit wenich zufrieden. Und wenn von dem ganzen Schnee, den wir damals hatten, auch ma watt Industrieschnee dabei war, dann hammwa datt nicht gemerkt.«

Den Schnee von heute gab es also gestern eigentlich auch schon. Nur hat er sich besser getarnt.

 

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